Die Aufgabe der Muslime in Deutschland ist es nicht, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren, nein, ihre Aufgabe ist es, sich zu emanzipieren.

 

Wir leben nach einer über dreihundert Jahre währenden Epoche der Aufklärung in einer Individualkultur. Der Prozess der Aufklärung hat während dessen zu keiner Zeit Eingang in den muslimischen Kulturkreis gefunden.

 

Das Weltbild der Muslime ist daher seit jeher ein kollektivistisches. Sich außerhalb der Einfluss-Sphäre der eigenen Sippe oder des Clans alleine versorgen zu können und ein freies, unabhängiges und individualistisches Leben zu führen, ist in ihren Augen weder möglich, noch wünschenswert. Alles, was der Familie nützt und sie stärkt, gilt als tugendhaft, alles was sie schwächt, wird als sündhaft gebrandmarkt. Das Wohl des einzelnen Familienmitglieds muss im Zweifelsfall der Gemeinschaft geopfert werden. Das ist die vorherrschende Ideologie. Zu viel Freiheit gefährdet den Zusammenhalt innerhalb des Clans und wird daher von den Oberhäuptern stark eingeschränkt. Abnabelungsversuche einzelner (meist weiblicher) Clanangehöriger werden nicht selten bis hin zum Ehrenmord bekämpft.

 

Eine Individualkultur tickt komplett anders. Das Interesse des Einzelnen hat Vorrang. Die Wahl des Wohnorts, des Berufs, des Partners oder die Verwendung des (selbst verdienten) Geldes ist Privatsache. Da hat sich die Familie gefälligst raus zu halten. In der Individualkultur bildet sich Identität aus einem Emanzipationsprozess heraus, der spätestens mit der Pubertät beginnt und mit dem Erlernen eines Berufes und der Abnabelung vom Elternhaus seine Fortsetzung findet. Ziel dieses Emanzipationsprozesses ist seit den Anfängen der Aufklärung der gereifte, freie und unabhängige Mensch; die emanzipierte Persönlichkeit.

 

Damit sich Muslime in eine Individualkultur integrieren können, müssen sie denselben Emanzipationsprozess durchlaufen, wie ein Heranwachsender ohne Migrations-hintergrund. Vor der Integration ist somit zwingend der Akt der Emanzipation zu bewältigen. Das bedeutet gleichzeitig, dass ein Paradigmenwechsel innerhalb der muslimischen Gesellschaftsschichten erforderlich ist. Weg vom kollektivistischen, hin zum individualistischen Weltbild. Dies wird bei der gesamten Integrationsdiskussion übersehen. Hierüber müssen wir mal gründlich nachdenken. Die aktuelle Diskussion über das Tragen von Ganzkörperschleiern bietet eine passende Gelegenheit dazu.

 

Die Gründe, weshalb sich in den muslimischen Gesellschaftsschichten keine Emanzi-pationsbemühungen anschieben lassen, sind vielschichtig und wurden teilweise bereits genannt: Angst vor Identitätsverlust, Mangel an Bildung und vor allem: fehlende Vorbilder. Außerdem müsste die Machtstellung der Clans zurück gefahren und die Bedeutung des Individuums erhöht werden. Das allein stößt schon auf erheb-liche Widerstände.

 

Neben den rein muslimischen Handicaps gibt es jedoch auch Mankos, die sich unsere westeuropäische Individualgesellschaft ankreiden lassen muss. Zwei Knackpunkte sind es, die es Muslimen erschweren, sich einem Emanzipationsprozess zu öffnen:

 

1. Der hierzulande weit verbreitete Individualisierungspessimismus:

 

Im Gegensatz zu den Bewohnern der USA stehen eine Großzahl der Deutschen, aber auch andere Westeuropäer dem Individualisierungsprozess skeptisch gegenüber. Wer der eigenen Kultur derart pessimistisch begegnet, kann sie auch nicht überzeugend als den besseren Lebensentwurf darstellen.

 

2. Die unkultivierte Erscheinungsform des Individualismus:

 

Der Individualismus als Massenphänomen ist gesellschaftsgeschichtlich gesehen noch eine junge Bewegung. Er hat seinen Reife- und Findungsprozess noch nicht abgeschlossen und präsentiert sich daher reichlich unkultiviert. Unsere Ellenbogengesellschaft geht nicht gerade sanft mit den Verlierern des Systems um. Es fällt daher schwer, Muslimen einen positiven Gegenentwurf zu ihrer islamischen Welt darzubieten, denn unsere Individualkultur hat neben ihren guten auch erschreckend schwache Seiten. An ihnen werden wir häufig gemessen und fallen damit regelmäßig durch den Rost.

 

Wenn es der säkularisierten westlichen Welt nicht gelingt, eine andere (optimistische) Einstellung zum Individualismus zu finden und darüber hinaus die unkultivierte Erscheinungsform unserer Individualgesellschaft in eine kultivierte zu verwandeln, wird es schwer fallen die Integrationsbemühungen voranzutreiben.

 

Auch wir sind gefordert. Jedoch nicht darin, möglichst viel Verständnis für den Islam aufzubringen (wir haben es), sondern unsere Idee von einer Individualgesellschaft klarer zu formulieren und transparenter zu kommunizieren.