Erich Fromm: Die Seele des Menschen, ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen

 

Dieser Auszug aus Erich Fromms Buch "Die Seele des Menschen, ihre Fähigkeit zu Gut und Böse" ist meiner Meinung nach eines der wichtigsten Schlüsselzitate überhaupt, um das notwendige Verständnis für unsere Individualgesellschaft entwickeln zu können:


"Der Narzissmus ist eine Leidenschaft von einer Intensität, die bei vielen Menschen nur mit dem Geschlechts- und Selbsterhaltungstrieb zu vergleichen ist. Häufig erweist sie sich sogar stärker als diese beiden Triebe. Selbst beim Durchschnittsmenschen, bei dem der Narzissmus eine solche Intensität nicht erreicht, bleibt noch ein narzisstischer Kern bestehen, der fast unzerstörbar zu sein scheint.

Wenn dies zutrifft, können wir vermuten, dass die narzisstische Leidenschaft genau wie der Geschlechts- und Selbsterhaltungstrieb ebenfalls eine wichtige biologische Funktion hat.

Sobald man diese Frage stellt, ergibt sich auch schon die Antwort. Wie könnte der einzelne Mensch überleben, wenn seine körperlichen Bedürfnisse, seine Interessen, seine Wünsche nicht mit einer
starken Energie geladen wären?

Biologisch, vom Gesichtspunkt des Überlebens aus muss der Mensch sich selbst weit wichtiger nehmen als irgendjemand sonst. Täte er dies nicht, woher nähme er dann die Energie und den Willen, sich gegen andere zur Wehr zu setzen, für seinen Unterhalt zu arbeiten, um sein Leben zu kämpfen und sich gegen seine Umwelt durchzusetzen?

Ohne Narzissmus wäre er vielleicht ein Heiliger – aber haben Heilige tatsächlich eine hohe Überlebenschance? Was vom religiös-spirituellen Standpunkt aus höchst wünschenswert wäre – dass es keinen Narzissmus gäbe – wäre vom weltlichen Standpunkt der Erhaltung des Lebens aus höchst gefährlich.

Teleologisch (
d.h. zielgerichtet) gesehen heißt das, dass die Natur den Menschen mit seinem erheblichen Maß an Narzissmus ausstatten musste, um ihm die Möglichkeit zu geben zu überleben..."

Ohne den narzisstischen Trieb in uns könnten wir keine eigenständige, emanzipierte und autarke Persönlichkeit entwickeln.

 

Was einerseits von Vorteil ist, wird ganz schnell zum Nachteil. Nämlich dann, wenn dieser narzisstische Trieb so exzessiv und ungehemmt ausgelebt wird, wie dies derzeit der Fall ist. Ich bezeichne daher unsere moderne Individualgesellschaft als unkultiviert. Es gehört zu den größten aktuellen Herausforderungen, unsere narzisstischen Bedürfnisse als solche zu erkennen und in einer gesellschaftskonformen Art und Weise auszuleben. Dazu ist allerdings ein Umdenken, ein Paradigmenwechsel, ein Kultivierungsprozess erforderlich. Nur so können wir unsere aktuellen Probleme und Krisen meistern.